Graffiti, Werbeplakate, Infoschilder und informelle Beschriftungen aller Art: Der öffentliche Raum von Metropolen wie kleinen Städten ist gleichermaßen geprägt von historischen und zeitgenössischen Spuren sprachlicher Praktiken. Sie alle erfüllen unterschiedliche Aufgaben – vermitteln Informationen, bewerben Produkte oder repräsentieren das Selbstbewusstsein einer Minderheitensprachgemeinschaft. „Wir untersuchen die Verteilung ein- oder mehrsprachiger Zeichen im öffentlichen Raum, ihre sprachlichen und semiotischen Merkmale sowie ihre Funktionen und Veränderungen im Laufe der Zeit“, erklärt Marta Lupica Spagnolo das Vorgehen linguistischer Forschung. Das Ergebnis sind wertvolle Einblicke in Sprachlandschaften: Welche Sprachen sind vorhanden? Woher kamen sie? Wer spricht sie? Und wie haben sie einander beeinflusst?
In ihrem Seminar lernen die Studierenden die wichtigsten Ansätze zur Kartierung sprachlicher Vielfalt kennen. Und dann sollen sie diese ausprobieren. „Wir schauen gemeinsam, wie Sprachen im öffentlichen Raum genutzt werden“, erklärt die Linguistin. „Und zwar genau dort, wo die Studierenden leben.“ Ein Ansatz, der sich besonders gut für dieses Seminar eignet. Denn es findet gleichzeitig an drei verschiedenen Universitäten in Deutschland, Italien und Tschechien statt, neben der Uni Potsdam noch an der Universität Cagliari und Masaryk-Universität. Zum Wintersemester sind insgesamt fast 50 Studierende dabei. Möglich macht dies eine Lehrkooperation innerhalb von EDUC. „Die Theorie haben wir den Studierenden als webbasiertes Training zur Verfügung gestellt, also einen Onlinekurs, den sie im Selbststudium absolvieren konnten“, sagt die Linguistin. „Erst danach sind wir alle gemeinsam gestartet: mit einem großen Online-Meeting.“ Dabei stellten die Lehrenden die Besonderheiten der Sprachlandschaften rund um die drei Universitätsstädte vor – und was die Forschung bislang über sie zu sagen weiß. Die drei Hauptschwerpunkte, die in Zusammenarbeit mit Kolleg*innen aus der Literaturwissenschaft entstanden, sind Identität, Erinnerung und Transformation.
Sprachwissenschaftliche Feldforschung ausprobieren
Anschließend ging es vor Ort – genauer: im Feld – weiter: Die Studierenden sollten sich in kleinen Gruppen zusammenfinden und selbst Forschungsprojekte entwickeln und umsetzen, entlang der Frage: Wie nutzen Menschen die verschiedenen vorhandenen Sprachen in öffentlichen Räumen? Den Potsdamer Studierenden stand dafür ganz Brandenburg offen. Einige blieben ganz nah und untersuchten, wie das Französische, die Sprache am Hofe von Friedrich dem Großen, bis heute in Park und Schloss Sanssouci präsent ist. Andere schauten, welche Rolle das Spanische und andere Sprachen in den transgressiven Beschriftungen in den Toiletten der Potsdamer Universitätsstandorte (Neues Palais und Golm) spielen. Eine dritte Gruppe fragte danach, auf welche Weisen sich Deutsch, Polnisch und Englisch in Frankfurt (Oder) begegnen. In Brno und Cagliari suchten sich die Teams eigene, regional inspirierte Fragestellungen.
Noch im Dezember kamen dann alle wieder online zusammen, um die Ergebnisse der Feldforschung vorzustellen und zu diskutieren. „Eine inspirierende Erfahrung, für Studierende und Lehrende gleichermaßen“, sagt Marta Lupica Spagnolo begeistert. „Wir können so Theorie und Praxis direkt miteinander verbinden. Außerdem ist die linguistische Forschung regional und international zugleich. Durch den vergleichenden Blick schaut man stets über das konkret Lokale hinaus – und schafft allgemeineres Wissen.“
EDUC verbindet
Profitieren würden die Teilnehmenden aber auch auf andere Weise: „Das internationale Miteinander sorgt dafür, dass man die bekannten Routinen verlässt, andere Menschen und Arbeitsweisen kennenlernt. Und dank des Onlineformats bietet es Studierenden die Gelegenheit, internationale Erfahrungen und sogar Sprachpraxis zu sammeln, auch wenn sie nicht reisen können oder wollen“, so die Forscherin. Da die Studierenden sich zwischen den Online-Sitzungen immer wieder mit den Gruppen der anderen Universitäten ausgetauscht haben, war der Kontakt auch nicht nur auf die Treffen in großer Runde beschränkt. „Die Idee war, dass sie sich online treffen und darüber diskutieren, wie sie die Feldforschung umsetzen, selbst schon ihre Ergebnisse vergleichen, um Gemeinsamkeiten und Muster zu erkennen – und natürlich sich vernetzen.“
Keine Frage: Ein solches Vorhaben sei herausfordernd, gibt Marta Lupica Spagnolo zu. 50 Menschen aus drei Ländern zusammenzubringen, berge auch in Zeiten der Digitalisierung noch Tücken. Einige waren ganz altmodischer Natur: Während in Deutschland das Wintersemester von Oktober bis Februar läuft, schließen italienische und tschechische Studierende ihres bis Weihnachten ab. Gemeinsame Termine und Arbeiten mussten also bis Ende Dezember abgeschlossen sein. Auch die Lehr- und Lernkulturen unterscheiden sich. Dabei ist das Seminar interdisziplinär ausgerichtet, da es Studierende der Sprach- und Literaturwissenschaft zusammenbringt. Nicht zuletzt sei es durchaus aufwendig, ein Seminar nahezu komplett in einen digitalen Lernraum zu transferieren. Das Online-Lehrmaterial zum Selbststudium hatte sie zwar großteils schon für eine Erstauflage des Seminars im Jahr 2021 erstellt. Aber um die Lehrenden und Studierenden virtuell zusammenzubringen, brauchte es eine eigene Lernumgebung. Diese wurde in den vergangenen Jahren von EDUC aufgebaut und basiert auf der weit verbreiteten Lernplattform Moodle. „Giovanni Fonseca vom Potsdamer EDUC-Team hat uns vorab beraten und geholfen, den Studierenden alles zugänglich zu machen. Das war eine große Hilfe“, sagt sie. So wurde das gemeinsame Seminar nicht nur eine Reise in fremde Sprachlandschaften, sondern auch ein Ausflug in bisher unbekannte Lernumgebungen: „Dieser Perspektivwechsel ist in meinen Augen besonders wertvoll und wichtig.“
Und zumindest für die Potsdamer Studierenden ist der Weg auch noch nicht zu Ende: Nach den letzten gemeinsamen Online-Sitzungen macht sich Lupica Spagnolo mit ihnen daran, die Ergebnisse der Feldforschung aufzubereiten, denn sie sollen der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden – auf einer Website des Zentrum Sprache - Variation – Mehrsprachigkeit (ZVM), welche die Mehrsprachigkeit in Brandenburg dokumentieren soll, sowie auf dem Instagram-Account des Lehrstuhls für Romanische Sprachwissenschaft (Französisch und Italienisch). Langfristig ist zudem geplant, lokale Künstler*innen einzubeziehen, um die studentischen empirischen Ergebnisse in ansprechende, ästhetische Formate zu übertragen.
Weitere Informationen:
Das web-basiertes Trainig „Linguistic Landscapes: languages in the public space“ ist online verfügbar unter: https://courses.educalliance.eu/course/121
Das Kursangebot von EDUC für Studierende: https://www.uni-potsdam.de/de/educ/fuer-studierende/onlinekurse
